Das Weihnachtshündchen
ein altes Märchen neu erzählt von Angelika Schütte
Das nun geschah in jenen Tagen um die Weihnachtszeit vor einem Jahr. Der November und die Adventzeit lagen in einem anhaltenden Nebel und unter einem ewig grauen Himmel, der selbst den gesundesten und heitersten unter uns, die Wintertraurigkeit bescherte.
Anders als in allen anderen Jahren war noch kein Schnee gefallen, der die Tage hätte heller machen können und es gab keine frostige Klarheit des Himmels in der Nacht. Es schien keine Wintersonne am Tag, die sich auf zugefrorenen Pfützen spiegelte. Die Morgenfeuchte auf den Gräsern gefror nicht zu kleinen Kristallen, die wie Diamanten glitzerten.
Es war zu warm, zu dunkel, kein Vogel zeigte sich. Der Nebel waberte über die Wiesen. Am Heiligen Abend stürmte es. Niemand wagte sich ins Freie. Doch nicht allein deshalb trat niemand hinaus. Es trug sich der Glaube, wer der wilden Jagd der Stürme zusah und dabei die Weiße Frau erblicke, die in dieser Zeit über Land ziehe, der beschwöre das Unglück herbei.
Der Ziegenbauer Paul und seine Frau Henriette saßen im Wohnzimmer ihres alten Fachwerkhauses und lauschten dem Sturm, der sich bedrohlich über das kleine Gehöft erhob. Henriette hatte dieses alte Gebäude, samt der anliegenden Ställe, von ihrem Großvater geerbt.
Mühsam, aber mit großer Freude, hatten Paul und sie den Hof hergerichtet, sich einige Ziegen angeschafft und eine kleine spezielle Käserei betrieben. Alles begann mit viel Herzblut.
Nun saßen sie schweigend und nachdenklich, lauschten besorgt dem Sturm. Sie fürchteten, dass er ihnen das Dach über dem Kopf zerreißt.
„Und das in diesen Tagen“, murmelte Henriette. „Als ob Weihnachten und die Tage bis zur Jahreswende nicht schon schwer genug für uns sind. Wenn uns nun auch noch das alte Fachwerk über dem Kopf zusammenfällt, möchte ich, lieber Gott, als erste vom schweren Firstbalken erschlagen werden.“
„Was redest du da, Jettchen?“, murmelte Paul. Aber Worte des Trostes fand er nicht, war zu müde und zu stumpf geworden unter der Last, die auf ihnen lag. Er konnte sie nicht in den Arm nehmen, konnte ihr keine Zukunftsversprechen machen, konnte sie nicht aus ihrem Trübsinn herausheben, wenn auch nur für einen Moment. Zu tief saß er selbst in jenem Tunnel aus Trauer und Verlust. Zu sehr war sein Herz eingeschnürt und seine Seele gefangen.
„Weißt du noch?“, fragte Henriette. „In der Weihnachtszeit vor zwei Jahren war hier noch Leben in der Stube und Lärm in den Ställen. Die Könige kamen mit ihrem Segen und wir gaben ihnen für die Armen. Unsere Sorge und die tägliche Arbeit galten unserem Sohn und den Tieren. Wie vermisse ich sein Lachen, seine ersten Schritte, die er in diesen Tagen selbstständig machte. Damals haben wir kein Unwetter gehört, hatten wir uns vor dem Sturm nicht gefürchtet. Warum sollte ich mich jetzt vor dem Tod fürchten? Eine Erlösung wäre es.“ Tränenlos starrte Henriette in das Kaminfeuer.
Paul schwieg. Wer sich selbst nicht zu trösten vermag, wie soll er Worte für andere finden?
„Diese verdammte Seuche!“, schimpfte Henriette. „Es war doch schon fast vorbei. Ich wünschte ich wäre daran gestorben und nicht unser kleiner Schatz, so jung noch!“
Die Krankheit hatte innerhalb weniger Tage ihr Kind hingerafft. Sie selber lagen Wochen im Fieber. Trauer und Schwäche machten sie unfähig den Hof weiter zu führen. Sie verkauften die Ziegen, um sich mit dem Geld über Wasser zu halten.
Jetzt war es still im Haus und im Stall. Nur der grausige Wind heulte und jammerte.
Ihr Wohnzimmer schmückte in diesem Jahr kein Weihnachtsbaum. Henriette hatte einige Tannenzweige in eine große Vase gestellt und eine rote Schleife hineingebunden. Unter die Zweige hatte sie das Bild ihres Sohnes gestellt.
Sie schenkten sich nichts zum Weihnachtstag. Zu knapp war die Kasse und zu aussichtslos die Suche nach etwas, was sie hätte erfreuen können.
So blieben sie an diesem Abend weiterhin stumm und gedankenversunken, schauten in den Kamin, dessen Feuer aber ihre Herzen nicht zu wärmen vermochte.
Plötzlich krachte es fürchterlich im Hausflur. Sie sprangen auf, liefen in den Flur und sahen, dass der Sturm die alte eichene Haustür aufgedrückt hatte. Sturm und Regen peitschten in den Flur, bis in die Wohnstube, ließen das Feuer im Kamin auf einmal funkensprühend hoch aufsteigen. Die Tür schlug hart in die Scharniere.
Paul musste einige Kraft aufwenden, um die Tür gegen den Druck des Sturmes wieder zu schließen.
Er fluchte leise und schlurfte gebeugt zurück. Die Tür hätte schon vor Monaten ein neues Schloss gebraucht. Doch er hatte sich nicht aufraffen können es einzubauen.
Als sie in das Wohnzimmer kamen, fanden sie vor dem Kamin ein kleines Hündchen.
„Das Tierchen muss zwischen unseren Beinen hindurch in die Stube gelaufen sein“, meinte Paul.
Nun stand es am Kamin, sah sie mit großen, braunen Augen an und klopfte in freundlicher Erwartung mit dem Schwanz auf den Boden. Sein zottiges Fell war feucht, kein Halsband gab Aufschluss darüber woher der kleine Hund kam.
„Wir werden dich erst einmal hier behalten“, sagte Henriette und nahm das kleine Wollknäuel auf den Arm. „Heute können wir doch nichts tun, um deine Leute zu finden.“
Paul streichelte den Hund und murmelte: „Da hast du dir aber geradewegs das ärmste und traurigste Haus im ganzen Dorf ausgesucht. Aber du kannst bleiben. Dann ist wenigstens etwas lebendiges in diesem Haus.“
Es sah so aus, als würde der Hund jedes Wort verstehen. Er rollte sich wohlig vor dem Kamin zusammen und blieb dort liegen.
Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm gelegt. Es war der erste Weihnachtstag und Paul fand, dass man erst nach den Feiertagen den Besitzer des Hundes suchen solle, da nun doch keine Hilfe zu erwarten sei.
Also blieb er. Weil er sich als ein kleiner, lustiger Spitzmischling erwies, nannten sie ihn Spitz. Er sprang munter umher, setzte sich zu ihnen aufs Sofa, folgte ihnen in jedes Zimmer und lag in der Nacht zwischen ihnen im Bett.
Als Paul einmal in die Hocke ging und mit ausgebreiteten Händen rief: „Spitz, komm zu Papa!“, lachten sie, was sie seit ewigen Zeiten nicht mehr getan hatten, gleichzeitig viel Henriette in ein herzzerreißendes Schluchzen.
Die Feiertage vergingen und der kleine Findling erwies sich als ein erfreulicher Stimmungsaufheller. Mit seiner Anhänglichkeit und einem unstillbaren Bedürfnis nach Körperkontakt und Streicheleinheiten erwärmte er die Herzen der beiden. Die Tage schienen heller, sie gingen wieder spazieren und wenn sie nach Hause zurückkamen, schien die Stube wärmer als sonst.
Der Hund blieb auch nach den Feiertagen. Sie meldeten ihn dem Tierheim und ließen ihn registrieren. Der Tierarzt untersuchte den kleinen Freund und befand ihn für vollkommen gesund.
So blieb der Hund und erwärmte ihre kalten Seelen. Mit ihm kam die Wärme in ihr Leben zurück. Nach langer Zeit der inneren Einsamkeit umarmten sie sich wieder. Auch die Arbeit ging wieder leichter von der Hand. Sie reparierten, was der Sturm beschädigt hatte. Paul wechselte das ausgediente Schloss der Eichentür.
Als das Frühjahr kam, begannen sie Pläne zu schmieden. Sie wollten den Hof wieder bewirtschaften. Zuerst waren es einige Hühner, die den Hühnerstall wieder mit Leben erfüllten.
Im Sommer nahmen sie einen Kredit auf, kauften sieben Ziegen und begannen die alte Käserei wieder in Betrieb zu nehmen. Der Garten wurde bestellt und brachte reichlich Früchte im Herbst.
Das kleine Hündchen begleitete sie bei der Arbeit und legte sich zu ihnen am Abend, wenn sie sich in wohliger Müdigkeit ausruhten, lasen oder von ihren Plänen und Wünschen erzählten. So verging das Jahr.
Nun ist wieder Weihnacht. Der Besitzer des Hundes wurde nicht gefunden. Paul hat einen Weihnachtsbaum aufgestellt. Henriette hat das Haus und den Baum mit dem Weihnachtsschmuck der Großeltern geschmückt. Unter dem Baum liegen Geschenke.
Auch wenn sie sich darum Sorgen, ob sie den aufgenommenen Kredit zurückzahlen können, haben sie einen Teil ihrer noch mageren Einkünfte aus der Käserei für Geschenke ausgegeben.
Henriette hat einen Auflauf zubereitet mit den Schätzen aus dem eigenen Gartens, mit Eiern der eigenen Hühner und hat seit zwei Jahren das erste Mal wieder gebacken. Es duftet nach alledem im ganzen Haus.
Sie sitzen am festlich gedeckten Tisch, Spitz hat eine doppelte Portion Futter erhalten.
Plötzlich kracht es fürchterlich im Hausflur.
„Ich habe das Schloss doch ausgewechselt“, meint Paul kopfschüttelnd und geht in den Flur. Henriette folgt ihm. Erst jetzt wird ihnen bewusst, dass draußen Sturmböen um das Haus fegen.
Doch wie erschrecken sie, als sie im Rahmen der alten Eichentür eine große, schlanke Frau sehen. Sie trägt einen langen weißen Mantel mit großem Kragen und Kapuze.
Spitz ist mit ihnen in den Flur gelaufen und springt mit einem Satz auf den Arm der weißen Frau, leckt ihr Gesicht und kuschelt sich an sie.
„Kommen Sie doch herein“, sagt Paul.
Die Frau muss sich unter dem niedrigen Türrahmen hindurchbücken. Sie führen sie ins Wohnzimmer, das Kaminfeuer lodert plötzlich hell auf und die Stube, nur von einer kleinen Tischlampe beleuchtet, wird hell.
„Seid gegrüßt“, sagt die Frau. „Ich bin gekommen mein Hündchen, dass mir zur letzten Weihnacht abhanden kam, zu holen. Wie ich sehe habt ihr euch liebevoll um es gekümmert. So soll dies auch euer Schaden nicht sein. Glück und Wohlergehen sollen in eurem Haus wohnen und bleiben solange die Herzenswärme guter Menschen bei euch wohnt.“
Mit diesen Worten nimmt sie das Hündchen unter ihren Mantel und schreitet hinaus. Paul und Henriette folgen ihr, doch als sie in den Türrahmen treten, sehen sie nichts als den sternenklaren Himmel und eine unversehrt schneebedeckte Landschaft.
Verwundert gehen sie zurück in die Stube und finden dort, in jenem Körbchen, in dem stets das Hündchen lag, einige hellglänzenden Taler aus purem Gold.
„Es muss die Weiße Frau gewesen sein“, sagt Antonio. „So sind es doch nicht nur Geschichten, die man sich über sie erzählt. Sie ist wahrhaftig und geht in den heiligen Tagen über Land.“
Von nun an zieht das Glück wieder ein in jenes Haus, das ein kleines Hündchen wieder zum Leben erweckte. Schon im nächsten Jahr werden die Ställe und Weiden wieder voller Tiere sein. Die Käserei wird gedeihen und bald schon wird man auch wieder Kinderstimmen im Haus hören. Und jedes Jahr zur Weihnachtszeit werden die beiden eine Kerze ins Fenster stellen, zum Dank für die freundlichen Gaben der weißen Frau.